Montag, 30. Juni 2014

DIE WELT IN HÄNDEN

„Augen auf bei der Berufswahl!“ - diesen Ratschlag kann man seinen Kindern gar nicht eindringlich genug vermitteln.

Nirgendwo sonst - außer im Bett - verbringen wir so viel Zeit wie an unserem Arbeitsplatz. Und es ist ganz gleich, wie oft wir uns sagen, dass die „eigentlich wichtigen Dinge des Lebens“ ganz andere  sind: das Lachen unserer Kinder, wenn ein neugieriger Hund ihre Füße beschnuppert; die gemeinsame Freude auf das Wochenende zu zweit in Venedig; das Tanzen bis die Füße weh tun auf der Party unserer FreundeFreunde* zu deren 40. Geburtstag… 

Wenn wir ehrlich sind, legt sich über diese wirklich wichtigen Dinge viel zu oft ein kleiner Schatten. 

Der von der Arbeitskollegin, die einen aus unerfindlichen Gründen nur an jedem dritten Tag zurückgrüßt, der von den Aktenbergen auf dem Schreibtisch, die wachsen, obwohl man doch pausenlos schuftet und nicht einmal mehr weiß, wo die Kantine ist, weil man seit Wochen keine Mittagspause mehr hatte, oder der von der Frage, ob man dem großen Ziel - einer ausgeglichenen „Work Life Balance" - irgendwann in den 30 Jahren bis zu Rente doch noch einmal näher kommen wird.

Um so wichtiger also, dass man seine Berufswahl grundsätzlich nicht in Frage stellen muss und daran zweifelt oder gar verzweifelt. Und ein Grund mehr, diese Wahl mit viel Bedacht zu treffen.

Ein Rat, den ich persönlich mir nach dem Schulabschluss gerne zu Herzen genommen hätte, wenn nicht die Entscheidung über mein eigenes - berufliches - Schicksal schon viel früher gefallen wäre.

Dabei gehöre ich nicht zu den Arztkindern, die zum dritten Geburtstag bereits ein echtes Stethoskop geschenkt bekommen und 15 Jahre später gar nicht anders können, als sich für den Studienzweig Medizin zu entscheiden. Und ich gehöre auch nicht zu den Landwirtskindern, denen bei der ersten Treckerfahrt mit einer ausschweifenden Armbewegung über die Felder vom Vater gesagt wurde: „Und eines Tages wird all das Dir gehören!" 
Und ich gehöre auch nicht zu den Amtskindern, denen ein Reisepass mit vielen bunten Stempeln und ein großer Koffer als Symbol für das zukünftige Leben als weltenbummelnde Diplomaten in die Wiege gelegt wurde.

Es war ein wenig später.

Zu meinem sechsten Geburtstag bekam ich von meinem Patenonkel Eberhard und seiner Frau Gisela einen Globus geschenkt. 

Da stand ich, nur etwas mehr als einen Meter groß - und hielt die Welt in Händen. 

Zugegebenermaßen anfangs etwas ratlos. 

Aber auch neugierig.

Das besondere an diesem Globus war seine „Leuchtfunktion“: Man konnte eine kleine Lampe im Inneren einschalten und dann zeigten sich auf der Oberfläche nicht mehr die Staatsgrenzen, sondern die topographischen Strukturen der Kontinente und der Ozeane - Berge, Wüsten, Meerestiefen. Mit meiner Schwester verbrachte ich Stunden vor dem Globus. Warum ist Russland so groß? Und Luxemburg so klein? Warum sieht Afrika aus wie eine Pferdekopf, wie groß ist der Atlantik und warum ist Deutschland grün? Und wieviel von dieser Welt würde ich einmal „in echt“ sehen?

An diesem Tag ahnte niemand von uns, wie weit dieser Globus es einmal bringen würde. Dass er mich vom Elternhaus in Schwalbach erst nach Bonn und von dort nach Norwegen und Italien begleiten würde. Dass er danach auf einem Regal in Bosnien und anschließend auf einem Schreibtisch in Spanien stehen würde. Dass er dann wieder in einem Karton nach Berlin reisen und Platz auf meinem Fensterbrett finden würde. Dass er dort bliebe, während ich ohne ihn nach Afghanistan reisen würde, um zwei Jahre später gemeinsam mit mir nach Argentinien zu ziehen. Dass es von dort wieder zurück nach Berlin und im letzten Sommer nach Hanoi ginge. 

Das hätte damals niemand gedacht.

Das Leben mit einem Beruf wie unserem ist nicht immer leicht. Zu oft muss man Abschied nehmen, zu oft ganz von vorne beginnen.

Und während Freundinnen diesem Job „durch Eheschließung entflohen“ sind, habe ich selbst diese Chance nicht genutzt - und einen Kollegen geheiratet. Doch nach zwanzig Jahren (Berufs- nicht Eheleben**) kann ich sagen: zum Glück! 

Denn die Chance, so viele Länder richtig kennenlernen zu dürfen, einzutauchen in andere Welten und sich selbst immer wieder beweisen zu können, dass man es eigentlich überall schaffen kann - das ist ein großes Glück. Und trotz aller damit einhergehender Belastungen und immer mal wieder auftauchender Zweifel ein riesiges Geschenk.

Womit wir wieder bei meinem Patenonkel wären.

Als ich Onkel Eberhard das letzte Mal traf, war er von seiner Krebserkrankung schon sehr gezeichnet. Er konnte nur noch mit Hilfe eines kleinen Apparats sprechen. 

Ich habe ihm das mit dem Globus erzählt. Und dass sein Geschenk damals vielleicht doch irgendwie der Auslöser für meine spätere Berufswahl war. Eine, mit der ich nach so vielen Jahren und vielen - sicher nicht nur schönen - Erfahrungen völlig im Reinen bin und die ich nicht bedauere.
Und dass wir auch als Familie dieses spannende Leben genießen, weil es uns zusammenwachsen lässt.

Ich glaube, das hat ihn gefreut. Er hat auf seine so typische Art verschmitzt gelächelt.

Und so werde ich ihn in Erinnerung behalten.



*Es gibt Freunde. Und es gibt FreundeFreunde. Es handelt sich hier nicht um einen Schreibfehler.


** Sechs Jahre Ehe sind natürlich auch ein großes Glück.

Sonntag, 15. Juni 2014

IM REGEN

Das kann jedem mal passieren. Dass er im Regen stehen gelassen wird.

Wobei es da natürlich feine Unterschiede gibt - zum Beispiel hinsichtlich der Stärke des Regens. Das KANN ein leichter Frühlingsschauer sein, das KANN aber auch ein subtropischer Platzregen zu Beginn eines Sturms sein.

Eines aber ist unstreitig:

So wie ICH am letzten Wochenende, ist vermutlich noch NIE jemand im Regen stehen gelassen worden.

Vor 10 Tagen gab es einen Sturm in Hanoi. Wir sind nachts ein paar Mal aufgewacht, weil der Regen so gegen die Fenster prasselte, haben ansonsten aber nicht viel davon mitbekommen.

Erst am nächsten Morgen offenbarte sich, was wirklich los gewesen war: 

Überall auf den Straßen lagen abgebrochene Äste und Palmblätter. Die massiven Bauzäune am West Lake waren umgekippt. Einfach so. 
Unzählige Bäume am Uferweg waren umgeknickt, ihre Wurzeln ragten in die Luft. 
Am Ostufer des Sees war ein kleiner Altar aufgebaut: Ein paar Kajakfahrer waren trotz des Unwetters hinausgefahren und zwei davon hatten es nicht mehr zurück ans Ufer geschafft und waren ertrunken.
Am Mausoleum war ein riesiger Baum umgefallen. Auf ein Taxi. Fahrer tot.

Keine Frage, die Regensaison hat begonnen. Und mit Ihr die Zeit der Stürme.

Am Samstag feierte eine argentinische Freundin ihren Abschied von Hanoi. Felix war zu einem Abendessen eingeladen, ich fand keinen Babysitter, Luis hatte an den Tagen zuvor gekränkelt. Die Kinder allein zu Hause zu lassen, kam daher nicht in Betracht. Also setzten wir uns zu dritt aufs Moped und düsten rasch zum "Kitchen", einem kleinen Restaurant in Tay Ho.

Offenbar war ich mit meinen Kinderbetreuungs-Schwierigkeiten nicht die Einzige, denn nach und nach tauchten auch alle anderen Abschiedsgäste mit ihren Kindern auf. 
Da Natalia das gesamte obere Stockwerk reserviert hatte, war das gar kein Problem. In der einen Ecke spielten die Kinder, in der anderen schwelgten die Erwachsenen in Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse im vergangenen Jahr: Wie Felix - im "Messi-Trikot" - am argentinischen Stand auf der Spring Fair in Rekordzeit alle Grillwürstchen verkauft hatte, wie Natalia uns ihr Geheimrezept für Empanadas de Tucumán verraten hatte und nebenbei ihre Küchengeräte vor dem Umzug verscherbelte, wie wir alle auf der Fiesta Latina "Hola Hanoi" getanzt hatten, bis uns die Füße wehtaten.

In all dem Trubel verflog die Zeit und wir schreckten auf, als es plötzlich donnerte: Draußen prasselte der Regen und die Palmen vor dem "Kitchen" bogen sich im Wind.

Ein Blick auf die Uhr - höchste Zeit, die Kinder ins Bett zu bringen. Fragte sich bei dem Wetter nur - wie?

Der Plan, die Vespa stehen zu lassen und zu Fuß nach Hause zu gehen, war schnell verworfen.

Die Kinder durch das Wasser laufen zu lassen, das schon jetzt an einigen Stellen knöchelhoch stand? Bei Platzregen und starkem Wind? Ich musste an den Taxifahrer denken...

Da kamen uns zwei Freundinnen zur Hilfe. Dunia und Nikki hatten sich ein Taxi bestellt, das sie und ihre Kinder sicher nach Ciputra bringen sollte. Schnell stand der Plan: Lotta und Luis steigen mit ins Taxi und der Fahrer fährt erst zu uns nach Hause und danach nach Ciputra.  
Und ich auf der Vespa hinterher.

Die wenigen Meter bis zum Taxi reichten, um alle tüchtig nass zu machen, schließlich aber saßen die 6 - wenn auch etwas beengt - im Wagen und ich versicherte Lotta und Luis, dass wir uns gleich vor unserem Haus treffen würden.

Letzte Frage an Nikki und Dunia: "Ihr wisst doch noch, wo wir wohnen? Und könnt dem Taxifahrer den Weg beschreiben?" 
Betretenes Schweigen. "Äh, nein. Keine Ahnung."

Also andersrum: Ich erkläre dem Taxifahrer, dass er den Wagen wenden und dann mir hinterherfahren soll. "Okay okay!", lächelt er. Es scheint, er habe mich verstanden.

Der Regen prasselt auf den Helm und in mein Gesicht, während ich dem Auto hinterherschaue, das zur nächsten Kreuzung - gleichzeitig die nächste Wendemöglichkeit - fährt. 

Macht nichts. Nasser kann ich nicht werden. Nur das Wasser, das um meine Füße fließt, ist ziemlich kalt...

Ich starre den Rücklichtern des Taxis hinterher, sehe, dass er den Blinker setzt und - abbiegt! WENDEN sollte er! Dieser Trottel. 

Ich zögere noch kurz, aber dann wird mir klar, dass da hinten soeben das Taxi in der Dunkelheit verschwunden ist, in dem meine Kinder sitzen. Mit zwei Frauen, die nicht wissen, wo wir wohnen. Und von denen die eine mein Handy an sich genommen hat, um es vor dem Regen zu schützen.

"Sch....!" Ich fluche, wende nun meinerseits die Vespa und düse - so schnell das eben im tiefen Wasser geht - dem Taxi hinterher.

Es donnert, der Regen scheint noch stärker zu werden. 

An welcher Stelle in der To Ngoc Van Street war nochmal das fiese Schlagloch? Wer weiß, was hier alles gerade die Straße herunterfließt? Wenn der Motor der Vespa absäuft? Kann man das reparieren? Wenn die Kinder merken, dass ich "weg" bin? 

In dem Moment sehe ich, dass das Taxi an der Ecke zur Lane 67 anhält, weil ihm ein Wagen entgegenkommt. Das ist meine Chance! Ich gebe nochmal Gas und schaffe es, das Auto zu erreichen, bevor es wieder losfährt. 
Klopfe kräftig gegen das Seitenfenster des Fahrers. Zeige auf mich und signalisiere dann, dass er mir folgen soll.

Diesmal hat er tatsächlich verstanden und fährt brav hinter mir her.

Die ganz Situation ist irgendwie surreal. Es donnert. Meine Vespa pflügt durch das auf der Straße stehende Wasser. Der Regen prasselt, es ist unglaublich laut. Ein Auto kommt mir entgegen. Die Bugwelle, die es vor sich herschiebt, schwappt über meine Füße.

Schließlich stehen wir vor unserem Tor, ich stelle das Moped schnell ab, schließe das Tor auf und flitze zum Taxi, das tatsächlich stehen geblieben ist.

Schnell hole ich die Kinder aus dem Auto, ein in die Luft geworfener Kuss an Nikki und Dunia. Und schon stürzen wir ins Haus und schütteln uns erst einmal.

Lotta starrt mich an. "Boah, Mama, Du bist ja total nass. Wie geduscht! Da müssen wir schnell ein Foto von machen!"



Die Kinder haben es wohl doch ganz entspannt genommen.

Und offenbar ist Lotta mir NOCH ähnlicher, als ich bisher dachte....:-)




Freitag, 13. Juni 2014

WILD BOYS

Es gibt Dinge, die man in Vietnam tunlichst vermeiden sollte:

  • Leitungswasser zu trinken - wegen des erhöhten Arsengehalts.
  • Ohne Helm Motorrad zu fahren - da kann jede Fahrt die letzte sein.
  • In Straßenrestaurants zu essen, in denen nirgendwo ein Wasserhahn zu sehen ist, dafür aber zahllose Katzen, die um die Spülschüsseln streichen...
  • Oder Kampfhundbesitzern zu sagen, sie mögen doch bitte mal still sitzen bleiben. Weil doch das Licht gerade so schön auf ihre Tätowierungen und das Fell ihres Hundes scheint und man ein Foto davon machen möchte...

Obwohl - bei letzterem habe ich neulich mal eine Ausnahme gemacht:




 
 

Es wäre übertrieben zu sagen, dass ich dort gestern Freundschaften fürs Leben geschlossen habe. So wie die zwischen diesen Jungs und ihren Hunden...


Aber es war mal wieder einer der Momente, der zeigte, dass in Vietnam nie etwas ist, wie es auf den ersten Blick scheint. 


Gewalt und Aggressivität gibt es auch hier, aber nicht unbedingt dort, wo wir es vermuten würden... 


Dafür aber ein schüchternes Lächeln und ein freundliches Winken zum Abschied dann, wenn wir es am wenigsten erwarten...






Sonntag, 1. Juni 2014

DURCH DICK UND DÜNN

Reisfelder. Wunderschön. So leuchtend.

   
So unglaublich grün.



Und so - matschig.


Der Lehmboden ist schwer und nass. 


Knietief stehen die Reisbauern im Schlamm...

 
... und graben das Feld um.


Ja, das ist keine Fotomontage: hier sind tatsächlich zwei ARBEITENDE vietnamesische Männer zu sehen, die offensichtlich zudem auch noch die Kinderbetreuung übernommen haben! Eine Aufnahme mit absolutem Seltenheitswert:


Die jungen Reispflanzen sprießen leuchtend grün aus dem matschigbraunen Wasser...


Glücklich, wer diese Arbeit nicht alleine bewältigen muss, sondern jemanden hat, der ihm hilft. 


Einen Wasserbüffel zum Beispiel.


Oder gar zwei.


Hauptsache, nicht mehr allein auf dem Feld.


Ein Wasserbüffel ersetzt bei der harten Arbeit locker drei Männer ....


... und noch mehr Kinder...


Ein guter Büffel kostet ca. 1000 Dollar. Das ist bei einem Durchschnittseinkommen auf dem Land von monatlich nicht einmal 100 Dollar ein ganz schöner Batzen.

Sein Wert misst sich nicht nur daran, dass er stark und gesund ist, sondern auch ob er gut abgerichtet ist und folgsam die Kommandos "rechts, links, vorwärt, Stop" befolgt.

Hat eine Familie es geschafft und nennt einen Wasserbüffel ihr Eigen, dann ist das eine unglaubliche Errungenschaft. Dann wird der Büffel gehegt und gepflegt.

Obwohl die Unterkünfte der Menschen in den Hilltribe-Dörfern alles andere als großzügig sind, überwintert der Büffel natürlich im Haus der Familie und da heißt es dann tatsächlich:
Platz findet sich in der kleinsten Hütte...

Einen Vorteil hat der tierische Mitbewohner jedoch: Nur für die menschlichen Bewohner würde man die Hütte nicht wärmen, um aber den Büffel vor einem Schnupfen zu bewahren, wird dann doch der eine odere andere Scheit mehr auf das Feuer gelegt.
Und so müffelt es vielleicht etwas nach Büffel, aber dafür ist das Haus gut geheizt... damit der Bulle nicht friert.

Und damit man im nächsten Frühjahr nicht wieder alleine aufs Feld muss.




 

Sondern gemeinsam durch dick und dünn geht...