Mittwoch, 21. Januar 2015

WENN EIN SACK REIS UMFÄLLT...

"Was kümmert es mich, wenn in China ein Sack Reis umfällt?!"

Eine deutsche Redensart, die man unzählige Male gehört und nie hinterfragt hat. Bis man sie dann einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet, zum Beispiel der vietnamesischen.

Wenn in Vietnam ein Sack Reis umfällt, dann ist das eine riesige Katastrophe.

Zumindest für den Reisbauern, dem der Sack gehört.

Ein Rechenbeispiel:

Der vietnamesische Bauer Nguyen besitzt ein eigenes Feld. Darauf baut er Reis an.




Da sein Geld für einen eigenen Wasserbüffel nicht reicht, leiht er sich hin und wieder den seines Nachbarn. Den Büffel braucht er, um den kleinen Erdwall, der sein Feld am Rand umgibt und schützt, festzutrampeln. 




Dass er als Gegenleistung dem Nachbarn - sozusagen nach Feierabend - auf dessen Feld hilft, versteht sich von selbst.



Um das Potential seines kleinen Ackers optimal zu nutzen und seinen Reis vor allem Unbill zu schützen, ist Bauer Nguyen an allen 365 Tagen des Jahres auf dem Feld. Sei es, um Reis zu säen, zu ernten, zu wässern oder die gefährlichen Schneckeneier vom wachsenden Reis zu lösen.



Wenn kein Taifun oder die Erderwärmung mit ihrem steigenden Meeresspiegel dazwischenkommt, dann hat Bauer Nguyen nach einem Jahr ein paar Säcke unter dem Dachboden stehen.

Die reichen gerade mal so, um ihn und seine Familie bis zur nächsten Ernte satt zu machen. 

Was übrig bleibt, wird eingetauscht - mal gegen ein Huhn, eine Ente, ein paar Eier oder Obst.


Immer vorausgesetzt, dass von der knapp bemessenen Menge nichts daneben geht. Zum Beispiel, weil ein Sack umfällt.

Würde Bauer Nguyen den Reis nicht selber essen, sondern verkaufen, bekäme er für die gesamte Menge, die er auf seinem kleinen Feld erntet, ungefähr 200 US $. 
Insgesamt. Nicht pro Sack.

Von dieser Summe könnte Bauer Nguyen mit seiner Familie auch bei sparsamster Haushaltsführung höchstens einige Monate leben.

Und so ist er also vielleicht nicht auf jedes Korn, aber auf jeden einzelnen Sack seiner Ernte angewiesen.


Einfach ist das Leben auf dem Lande in Vietnam nicht wirklich. Dafür aber sehr einfach.

Donnerstag, 15. Januar 2015

WAHLVERWANDTSCHAFTEN

Unsere Tochter Lotta ist schreibfaul. Ganz die Mutter. Leider.

Im November letzten Jahres hat sie sich - zumindest vorübergehend - von dieser genetischen Erblast befreit und an einem einzigen Wochenende gleich neun Briefe geschrieben.

An ihre Großeltern, die beste Freundin, ihre alte Schulklasse in Berlin, an ihr Lieblingsnachbarskind, ihre Lieblingsnachbarn und deren Hund und an drei Großtanten, die sie aus den Sommerferien in guter Erinnerung hatte.

Briefe schreiben ist nicht schwer, die Post nach Deutschland zu bringen dagegen sehr. 

Zumindest wenn man in Hanoi wohnt und die örtliche Post zu wenig vertrauenswürdig für solch kostbare Fracht ist. Der diplomatische Kurierweg scheidet auch aus: mit dem dürfen nur kleine Umschläge verschickt werden. 

Lottas Briefe aber sind allesamt auf bunten Karton geschrieben und ich muss ihr versprechen, die bunten Bögen bloß nicht zu knicken!
Da scheint es wie eine glückliche Fügung, dass eine offizielle Delegation aus Deutschland nach Hanoi kommt und einer der Reisenden sich bereit erklärt, als Postbote zu dienen. Einziges Problem: Wir haben nicht mehr genügend Briefmarken. Also werden alle neun Briefe in Umschläge gesteckt, diese nach kurzer Adressenrecherche im Internet flugs beschriftet und in einen Sammelumschlag gesteckt und dieser dann mit der Bitte, ihn von Berlin sofort an die Großeltern im Taunus zu schicken, dem amtlichen Briefträger mitgegeben.

Dann beginnt das große Warten. Beinahe täglich fragt Lotta, ob denn ihre Post schon angekommen sei und ob die Adressaten ihr nun auch alle zurückschreiben würden.

Woche um Woche vergeht, nichts geschieht -  und so fahren wir erstmal in die Weihnachtsferien.

Zurück in Hanoi bringt Felix dann aus der Botschaft einen ganze Ladung Päckchen und Briefe mit.

Jede Menge hübscher Geschenke, dazu ein Lebkuchenherz vom Bonner Weihnachtsmarkt von den lieben Becks, in alter Tradition ein echt Pankower Stollen von den Schmallis und - GANZ VIEL Post für Lotta.

Deren Augen leuchten, als sie ein Päckchen nach dem anderen auspackt und begeistert die begleitenden Zeilen liest.

Zuletzt öffnet sie ein Paket aus Bielefeld.

Selbstgebackene Plätzchen, ein hübscher Baumschmuck aus Holz und ein Brief auf kunterbuntem Regenbogenpapier. 

"Von Tante Ursel!" ruft Lotta und beginnt sogleich, die zwei Seiten vorzulesen. 

"Liebe Carlotta!" steht da. 



Tante Ursel schreibt, dass Lottas Brief eine Nikolausüberraschung war.... Und ergänzt dann: "Ich überlegte, wer ist denn diese Carlotta?"

Felix und ich schauen uns verblüfft an. "Ist der gar nicht von Tante Ursel...?", fragt Felix leise und ich werfe vorsichtig einen Blick auf die Rückseite des Briefes. 

Doch! "Deine Tante Ursel aus Bielefeld" steht da.

"Nee, der ist von ihr," beruhige ich Felix, ergänze aber etwas verwirrt: "Obwohl - ihre Handschrift ist das nicht."

"Na, dann hat sie vielleicht jemanden gebeten, für sie zu schreiben", findet Felix sogleich eine Erklärung für die ungewohnte Schrift. "Sie hatte doch diese Augenoperation."

Lotta liest weiter. In den folgenden Zeilen schreibt "Tante Ursel", dass sie sich über Lottas Brief sehr gefreut hat, sich aber seit Erhalt des Schreibens fragt, welche Carlotta ihr denn da geschrieben habe. Sie habe nämlich gar keine Nichte, die so heißt.

Sorgfältig zählt sie die Namen ihrer Kinder und Enkelkinder auf - keine Carlotta.

Dann schildert sie ihre Überlegungen, wen Berlin-Mitte sie wohl kennen könnte -  weil als Absender ja die Adresse der Kurierstelle des Auswärtigen Amtes angegeben ist - Fehlanzeige!

Auch dem Adresszusatz "Bo Hanoi" (steht für Botschaft Hanoi) sei sie nachgegangen und erklärt dann, dass sie zwar einen Verwandten habe, der Stadtrundfahrten in Hamburg organisiere, und dass der auch schon mal in Vietnam war, aber nicht in den letzten Monaten. Außerdem hätte der wohl kaum mit Carlotta unterschrieben.

Und zuletzt hat sie auch noch den Poststempel unter die Lupe genommen. Dass auf dem aber "Wiesbaden" steht (weil ja meine Eltern die einzelnen Sendungen weitergeschickt hatten), lässt die Verwirrung nur noch größer werden.

Und so bleibe es - schreibt sie - allem Nachdenken und trotz umfangreichster Recherchen ein großes Rätsel, welche Carlotta ihr denn da eigentlich geschrieben habe.

"Wie dem aber auch sei..." - so endet der Brief - "...auf jeden Fall sende Tante Ursel nun herzlichste Grüße aus Bielefeld".

Als Carlotta zu Ende gelesen hat, schaut sie uns fragend an. Und wir schauen verwirrt zurück.

Da greift Felix nach dem Karton, in dem Brief, Holzschmuck und Brief verpackt waren.

 "Mensch!" ruft er. "Das ist zwar der Name, aber das ist doch überhaupt nicht die Adresse von meiner Tante Ursel! Wer hat denn an DIE Adresse geschrieben?"

"Die habe ich im Internet gefunden..." gestehe ich kleinlaut.

Danach schauen wir uns den Brief, die  Plätzchen und die Holzdekoration noch einmal genauer an und denken alle drei das Gleiche:

Da hat offenbar eine ganz andere Ursula S. aus Bielefeld den Brief bekommen. Nicht Felix' Tante, die eigentlich gemeint war, sondern eine Namensvettern aus der gleichen Stadt. Eine, die gar keine Nichte namens Carlotta hat. Und schon gar keine, die in Hanoi lebt. Kein Wunder, dass all ihre Überlegungen und Recherchen im Sande verliefen...

Darauf hätten es die meisten Menschen beruhen lassen.

Nicht so diese "Tante Ursel". Sie griff zu Füller und Briefpapier, schrieb einen langen Brief an das unbekannte Mädchen Carlotta, das ihr von einem Wasserpuppentheater und ihrer tollen Schule berichtet hatte, packte ein paar leckere selbst gebackene Plätzchen und einen hübschen Weihnachtsschmuck dazu und schickte alles an diese mysteriöse Adresse "Bo Hanoi in Berlin Mitte".

Und dieser Brief, diese Kekse und die Laubsägearbeit, bescheren uns nun, einen wunderbar komischen aber vor allem auch (an)rührenden Moment im Nachgang zum Weihnachtsfest.

Man kann sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen.

Aber WENN man es könnte, dann würden wir diese "falsche" Tante herzlich gerne in unserer Familie haben!