Donnerstag, 25. Juni 2015

DAS LEBEN DER ANDEREN

Verwirrt sehen Anke und ich uns an.

Wie so oft in den vergangenen Monaten sitzen wir - etwas fröstelnd - auf einem hölzernen Sofa, vor uns eine Tasse grünen Tee und eine Schale mit Mandarinen und lauschen den Lebensgeschichten vietnamesischer Alumni.

„Das habe ich von der deutschen Mutti…“ erzählt die ältere Dame, die uns gegenüber sitzt und einen kleinen Kerzenleuchter in Händen hält.

Spricht sie von der Bundeskanzlerin?



Für das Buch zur Posterserie „Studieren in Deutschland - Eine Familientradition" interviewt Anke, die DAAD-Büroleiterin, ein gutes Dutzend vietnamesischer Familien. Alle verbindet, dass sowohl mindestens ein Elternteil als auch mindestens ein Kind in Deutschland studiert oder promoviert hat. 

Ich bin dabei, um das Ganze fotografisch zu dokumentieren. 

In der Elterngeneration stoßen wir auf viele „Moritzburger“, ein Begriff den man als Deutscher in Vietnam meist irgendwo schon einmal gehört hat, mit dem man aber meist nicht all zu viel anfangen konnte. Bis jetzt.

Meist dauert es etwas, bis die Gesprächspartner in Schwung kommen. Merken sie aber erst einmal, dass ihre Erzählungen bei uns auf echtes Interesse stoßen, legen sie los und erzählen - in druckreifem Deutsch - wie das damals war. Als sie als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene nach Deutschland reisten.

Und in den vielen Gesprächen erfahren wir auch erstmals von dem großen Plan, der hinter allem stand.

Vietnam in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Europa erholt sich von den Folgen des 2. Weltkrieges. Im anderen Teil der Welt ist dagegen noch lange kein Frieden eingekehrt.

Vietnam hat sich gerade erfolgreich von den japanischen Besetzern befreit, Frankreich dagegen will seine Stellung als Kolonialmacht nicht aufgeben. Seit fast 100 Jahren beutet es die Menschen und Ländereien Vietnams aus. Warum damit aufhören?

Doch seit 1946 regt sich organisierter Widerstand - wichtigster Anführer ist Onkel Ho, bei uns bekannter unter dem Namen Ho Chi Minh.

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte des Landes, das Vietnam von einer fremden Macht besetzt und ausgebeutet wird. Und bisher ist es früher oder später immer gelungen, die feindlichen Eroberer wieder zu vertreiben.

Weil er weiß, dass das auch diesmal wieder der Fall sein wird, macht Ho Chi Minh bereits Anfang der 50er Jahre, zu einem Zeitpunkt, als die Freiheit noch in weiter Ferne scheint, Pläne für die Zeit „danach“. Wenn die Franzosen vertrieben sind, soll Vietnam als freies Land wieder auferstehen. Es soll ein modernes Land sein, ein Land, dessen Bewohner endlich keinen Hunger mehr leiden. Statt feindlicher Truppen soll endlich der Fortschritt Einzug halten.




Dafür braucht es - das ist ihm klar - gut ausgebildete junge Menschen. Aber wo und wie soll man in diesen Kriegszeiten, geprägt von Armut und Hunger, in Ruhe lernen?

Ho Chi Minh besinnt sich auf seine Verbündeten im Geiste im Ausland. Und schnell wird nicht nur mit Russland, sondern auch mit der Deutschen Demokratischen Republik vereinbart, dass vietnamesische Kinder von den befreundeten Staaten aufgenommen werden, um dort in "Schullandheimen" die Bildung zu erhalten, die ihnen ihn der Heimat nicht geboten werden kann.



„Ich war zehn und hatte im Sommer zuvor ein Buch gelesen, in dem ein Junge eine weite Reise machte. Als die Männer kamen und meiner Mutter erklärten, dass ich zu den Ausgewählten gehörte, die nach Deutschland reisen sollten, konnte ich mein Glück nicht fassen. Nun sollte ICH eine Reise machen! Kaum erwarten konnte ich, dass es endlich losging!“ erzählt uns einer der Interviewpartner.

Auf die Nachfrage „Aber warum denn ausgerechnet Sie? Warum nicht Ihre Geschwister? Warum nicht die Nachbarskinder?“ hören wir von allen die gleiche Antwort: „Ich hatte die besseren Noten.“

Nicht alle „Erwählten“ wussten jedoch sofort, wohin die Reise ging. So erzählte eine andere Dame:

 „Als ich mich von meiner Mutter verabschiedete und wir mit dem Auto aus dem Dorf fuhren, dachte ich, die Reise ginge lediglich nach Hanoi. Was für mich schon ein riesiges Abenteuer bedeutete. Doch ein paar Tage später, als ich in einem Zug saß, der die Grenze zu China überquerte - da wurde mir langsam klar, dass ich wohl länger von zu Hause weg bleiben würde.




Eine typisch weiblich Frage konnten wir uns an dieser Stelle kaum verkneifen. Die nach dem Gepäck. Wenn man seine Heimat verlässt. Für so viele Jahre. Was nimmt man denn da so alles mit? 

„Einen schwarzen Koffer haben wir bekommen. Da war unter anderem ein guter Anzug drin. Nicht viel mehr. Nach all den Jahren in Deutschland waren natürlich ein paar Dinge hinzugekommen. Zum Beispiel eine Winterjacke, ohne die man es in Deutschland nicht ausgehalten hätte. Wenn man zurückging nach Vietnam, dann übergab man den Koffer an den nächsten, der nach Deutschland aufbrach. Die Winterjacke ließ man natürlich drin. Damit auch der Kamerad in Deutschland nicht würde frieren müssen…



Von der vietnamesisch-chinesischen Grenze ging es dann auch weiter bis zur chinesisch-russischen Grenze. Und nach über drei Wochen endete die Fahrt in Berlin. Ein letztes Mal umsteigen in den Zug nach Dresden und weiter mit Bussen nach Moritzburg. 



Benannt nach dem gleichnamigen Schloss, in dessen umliegenden Häusern und Baracken die Kinder und Jugendlichen - meist für viele Jahre - ein neues Zuhause fanden.
„Bei unserer Ankunft am Bahnhof waren auch deutsche Menschen auf den Gleisen. Ich erinnere mich genau, wie sie uns neugierig betrachteten. Nicht unfreundlich. Aber ein wenig so, als ob wir vom Mond kämen…“

So schildert eine ältere Dame das Eintreffen in Dresden. Sie war zum Studieren nach Deutschland geschickt worden und ihre Eltern entdeckten später in einer vietnamesischen Zeitung zufällig ein Foto, dass die eigene Tochter bei Ankunft auf dem Bahnsteig des Dresdner Hauptbahnhofs zeigte.

Als sie uns das Bild zeigt, überrascht uns die Reaktion der deutschen Passanten nicht wirklich. Eine Gruppe elfengleicher Vietnamesinnen mit langem schwarzen Haar. Gekleidet in weißen Ao Dais, die mit roten Blüten kunstvoll bestickt sind. Kein Wunder, dass man sie für Wesen von einem anderen Stern gehalten hatte…


Außer der nach dem Gepäck treibt uns jedoch noch eine andere Frage um: So jung, so weit weg von zu Hause - da musste man doch schrecklich Heimweh haben?

Bei der übereinstimmenden Antwort hierauf mag die Verdrängung im Lauf der vergangenen Jahrzehnte eine Rolle gespielt haben, dennoch sind die Argumente vermutlich nicht ganz aus der Luft gegriffen:

„Heimweh? Nein. Nicht wirklich!.Uns ging es doch so gut in Moritzburg! Regelmäßige Mahlzeiten - Dreimal am Tag! Saubere Kleidung. Gemütliche Betten. Für jeden von uns eins! Und dann die vielen Erwachsenen, die sich um uns kümmerten, statt die Felder zu bestellen oder in den Krieg zu ziehen - wie unsere Eltern…“

„Als die Leute kamen, um mich nach Deutschland mitzunehmen, hatte ich meine Eltern schon lange nicht mehr gesehen. Sie waren beide im Krieg. Treue Gefolgsleute von Bruder Ho… Deswegen war ich ja auch ausgesucht worden. Und wegen meiner guten Ergebnisse in der Schule!“

„Am Anfang war es nicht ganz einfach. Da haben wir Mädchen abends, wenn die Erzieherin den Schlafsaal verlassen hatte, alle Betten in der Mitte des Raumes zusammen geschoben. So konnten wir einander beim Einschlafen an den Händen halten. Das hat uns sehr geholfen. Denn ein wenig einsam fühlten wir uns ja schon - so weit weg von daheim.



Im "Schullandheim" in Moritzburg lebten und lernten die vietnamesischen Kinder und Jugendlichen viele Jahre lang. Betreut wurden sie von vietnamesischen und deutschen Lehrern und Kinderschwestern. Fragt man sie nach Höhepunkten in dieser Zeit, sind sich alle einig:

„Das war, als Onkel Ho uns besuchen kam! Wir konnten gar nicht glauben, dass er die weite Reise zu uns gemacht hatte. Studierten Wochen vorher Lieder und Tänze ein. Und Gedichte!“

„Der kleine rechts hinter Onkel Ho - das bin ich! Nie werde ich diesen Tag vergessen!“

Aber das war nicht das einzige Erlebnis, das unvergessen blieb.

„Als es zum ersten Mal schneite, da sind wir alle barfuß rausgerannt. Schnee - den kannten wir nicht. Und wussten natürlich auch nicht, dass er so kalt war.“

„Ein paar von den jüngeren Kindern haben dann versucht, Schnee in Briefumschläge zu packen. Sie wollten ihn an ihre Familien in Vietnam schicken. Das hat natürlich nicht geklappt. Weil der Schnee geschmolzen ist…“

Und die Deutschen außerhalb des Internats bzw. der Schule? Wie haben die Sie aufgenommen?

„Manche im Dorf mochten uns nicht so sehr. Die waren verärgert, weil wir ihnen immer die ganzen Postkarten weggekauft haben, um sie an unsere Familien nach Vietnam zu schicken…“ 

„Meine Mitschülerin hatte zu Hause erzählt, dass es da ein vietnamesisches Mädchen gäbe, das immer so traurig sei. Da haben sie mich zu sich nach Hause eingeladen. Da hatte ich dann plötzlich eine deutsche Schwester.“



„Vor ein paar Jahren ist meine deutsche Mutti, also die Mutter meiner deutschen Freundin, gestorben. Da haben die Nachbarn mir eine Kiste mit alten Fotos, Erinnerungsstücken und meinen Briefen geschickt. 

Die Mutti hatte ihnen das aufgetragen, bevor sie starb. Das seien die Andenken für ihre vietnamesische Tochter, hatte sie den Nachbarn gesagt. So stand das in dem Brief, der dem Paket beilag.“


Also doch nicht die Bundeskanzlerin.

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