Sonntag, 30. August 2015

EWIGE JUGEND

Abi 90. Liebigschule Frankfurt. 
25 Jahre danach.

Ein letzter Blick in den Spiegel. Dezentes Make up. Die Haare locker hochgesteckt. Vielleicht doch etwas Concealer, um die kleinen Augenfältchen abzudecken?

Nein. 25 Jahre sind eine lange Zeit. Die hinterlassen nun mal ihre Spuren. Selbst dann - oder gerade wenn? - es das Leben gut mit einem gemeint hat...

Ob man den anderen die vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte genauso ansieht?

Und wird mir mein katastrophales Namengedächtnis mal wieder einen Streich spielen und ich den ganzen Abend stotternd vor "irgendwie bekannt" aussehenden Gesichtern stehen, zu denen mir beim besten Willen kein Name einfällt? 
Oder - noch schlimmer! - wird man sich zwar wiedererkennen, aber nach ein paar höflichen Begrüßungsfloskeln einfach nichts mehr zu sagen haben? 

Es kommt anders. 

Die Luft schwirrt von Gelächter und alten Geschichten. 

„Wisst ihr noch?" Ist wohl die am häufigsten gestellte Frage des Abends. Und fast immer lautet die Antwort: „Ja klar! Aber wisst IHR noch…?“ 
Würde uns ein Fremder belauschen - er müsste zwangsläufig den Eindruck gewinnen, unsere gesamte Schulzeit sei ein einziger Spaß gewesen. Und die größte Katastrophe vergessene Hausaufgaben. 


Unvergessen, wie der Kalk (Religionslehrer und Pfarrer mit viel Temperament und einer Frisur wie Albert Einstein) in einem Anfall von Wut die Blockflöten zweier Schüler aus dem Fenster im 2. Stock warf. Den beiden blieb damals nur eine einzige Pause, um die Instrumente in dem darunter liegenden Dornengebüsch zu finden - und danach zum Musikbau zu rennen.

Wo im Zweifel unser Musiklehrer Herr Hüsch geduldig wartete. Ein sensibler, verständnisvoller Mann, von dem überliefert ist, dass er sogar noch an die Schüler 10 Punkte vergab, die im vergangenen Halbjahr Musik abgewählt und gar nicht mehr am Unterricht teilgenommen hatten  - und deswegen „etwas stiller als im Vorjahr“ gewesen waren….

Auf soviel Nachsicht konnte man bei seiner Kollegin Frau Fleischhammer nicht rechnen. Die engagierte Chorleiterin hatte uns schon in der 5. Klasse gezeigt, wo der - musikalische - Hammer hängt. „Wenn die erste Stimme singt, wird die Milch sauer!“ hatte sie in jeder einzelnen Chorprobe krakeelt und mich damit gleich nach dem ersten Halbjahr vertrieben. Eine Erfahrung, die "dem Mär" erspart blieb - er war erst gar nicht in den Chor aufgenommen worden und stellte kurz darauf befriedigt fest, dass diese vermeintliche Schande eigentlich das Beste war, das ihm hatte passieren können.

Neben der Musik spielten an der „Liebig“ allerdings vor allem die Sprachen eine wichtige Rolle.

Kein Wunder, waren doch unsere Sprachlehrer allesamt faszinierende Persönlichkeiten.

An erster Stelle wäre da wohl der Fendel zu nennen, der enthusiastische Französischlehrer, der uns an einem einzigen Studientag in Straßburg durch sage und schreibe 7 Kirchen geschleppt hatte.
Neben seiner Begeisterungsfähigkeit soll hier jedoch auch seine fachliche Kompetenz Erwähnung finden. Zeichnete er sich doch dadurch aus, dass er nicht nur akzentfrei französisch sprach, sondern sich sogar im Deutschen einen leichten französischen „accent“ zugelegt hatte - très charmant….

Getoppt wurde sein Enthusiasmus wohl nur vom Braunberger. Der hatte für den Studientag des Englisch-Leistungskurses eine ganz besondere Idee: 
„Wir machen daraus ein ganzes Studienwochenende“, teilte hatte er uns strahlend mitgeteilt. "Wir hängen einfach den Samstag und Sonntag dran und fahren ins Haus der Sieben Brüder nach Hunoldstal - nur zwei Stunden von Frankfurt entfernt im Wald gelegen. Da wird man garantiert nicht abgelenkt - nur wir und Shakespeare. Na, irgendjemand (etwa) nicht dabei!?!“

Klar, dass bei so viel Begeisterung der Funke übersprang, überspringen musste. Und so bin ich vermutlich nicht die einzige ehemalige Braunberger-Elevin, die vor ein paar Jahren - noch immer gefangen von der Magie eines Ortes namens Hunoldsthal - bei der Verleihung eines Oscars an Gwyneth Paltrow dachte: „Shakespeare in Love?" Müsste das nicht „In Love with Shakespeare“ heißen?


Trotz all der Anekdoten über unsere Lehrer - im Laufe des Abends bestätigt sich dann doch, dass nicht zuletzt die Schüler die wahren Stars unserer Schulzeit waren.

Allen voran "Alfred, der rasende Ägypter“. 

Der zierliche Alfie hatte im Rahmen eines Abi-Streichs den Lehrer Dorsch - während einer Unterrichtsstunde in einer der unteren Klassen - mit der Wasserpistole ausgiebig naßgespritzt und war danach auf den Oberstufenschulhof geflüchtet. Dort eingetroffen kam er allerdings nicht dazu, Atem zu schöpfen, denn obwohl doch GK- und nicht Sport-Lehrer, sprintete der Dorsch dem Angreifer hinterher und verfolgte ihn unglaubliche 900 m weit, bis tief in die Hausener Siedlung hinein, wo sich schließlich Alfreds Spur in einem Gebüsch verlor. 

Eine Leistung, die Alfred auch nach 25 Jahren noch zum heimlichen Superstar des Abi-Lehrgangs macht, wie der Jubel bei seinem Eintreffen beim Abitreffen verrät.

Nicht ganz so viel Sportsgeist, dafür aber überraschend viel Kreativität hatten Jahre zuvor, so ungefähr in der Sechsten, der Kalli und der Mär bewiesen. Am Rande der Klassen-Faschingsparty wurden sie von der Englischlehrerin gefragt, ob sie sich nicht auch verkleiden wollten. Darauf entgegneten die beiden mit breitem Grinsen „Das sind wir doch!“ und verwiesen darauf, dass sie ihre Trainingsanzüge (beide blau und von Adidas) getauscht hatten und doch ganz offensichtlich als „Mär und Kalli“ gingen…

Geradezu abenteuerliche Geschichten hatte ich seinerzeit offenbar verpasst: 
War da wirklich mal jemand mit der Klassenkasse „abgehauen“ und Jahre später ganz frech bei Facebook wieder aufgetaucht? Um dort einen geradezu ausschweifenden Lebensstil zu präsentieren, dessen finanziellen Grundstock womöglich die damals erbeuteten Schülerersparnisse gebildet hatten?

Dabei dachte ich immer, ich hätte den einzigen echten Kriminalfall hautnah miterlebt: 

Als wir in der neunten Klasse Austauschschüler aus einem Vorort von Paris zu Gast hatten, bestand für einige der Franzosen das größte Freizeitvergnügen darin, an den freien Nachmittagen den örtlichen Woolworth-Laden zu besuchen. Eine Begeisterung, die uns zu teilen schwer fiel. Aber schließlich ist man ja verantwortlich für seine Gäste. Also geht man mit.

Diese Verantwortung nahm vor allem der Roland damals ganz besonders ernst. Hatte er doch einen Austauschschüler zugeteilt bekommen, dem man seine 16 Jahre nun so gar nicht ansah. Schlimmer noch - bei der Ankunft der französischen Klasse hatten wir zunächst gedacht, ein Fünfklässler hätte sich unter die Gruppe geschmuggelt, die nach Deutschland fuhr. Er hieß Jerome und sein immenser Zigarettenkonsum sowie seine grandiosen Fähigkeiten beim Küssen (von denen die Hälfte der weiblichen Austauschschülerinnen und auch die zuvor erwähnte Verwalterin der Klassenkasse schwärmten), ließen erhebliche Zweifel an der Schmuggeltheorie aufkommen. 

Obwohl - vermutlich wäre die Sache, die danach passierte, weitaus glimpflicher abgelaufen, wäre Jerome tatsächlich erst 11 gewesen. Das dachte zumindest Rolands Mutter, als an einem sonnigen Nachmittag der Detektiv vom Woolworth anrief, um ihr mitzuteilen, dass „der kleine Jerome“ dabei erwischt worden war, als er gleich zwei Woolworth-Uhren hatte stehlen wollen.
Ganz zu schweigen von dem Schrecken, der Frau B. in die Glieder fuhr, als der Detektiv dann auch noch mitteilte, dass er vorsichtshalber auch den großen, blonden, deutschen "Beschützer“ festgesetzt habe, in dessen Begleitung sich der Uhrendieb befunden hatte... 

Unnötig zu erwähnen, dass der Roland auch lange nach Abreise der Franzosen noch blöde Bemerkungen über seine Vergangenheit als Krimineller zu hören bekam..


Wie sich an diesem Abend herausstellt, war all das nur eine harmlose Kinderei, gemessen an dem, was sich damals während unseres Gegenbesuchs in Frankreich abgespielt hatte.

Nun, nach all den Jahren, rückt Martin nämlich mit einer wirklich düsteren Geschichte heraus, die sich seinerzeit in der Parise Banlieue abgespielt hatte.

Sein Gastbruder verbrachte damals sämtliche Nachmittage in einer extrem verruchten und noch dazu total verrauchten Spielhölle und schlug allen Ernstes vor, dass Martin ihn dorthin begleitete! Auf dem Gepäckträger seines Mopeds. Ohne Helm!

Sprachlos starren wir Martin an, dem es ganz offenbar gut tut, dieses traumatische Erlebnis seiner Jugend einmal loszuwerden.

„Und? Bist du etwa mitgefahren?“ fragt der Ger und erschauert schon beim Gedanken an die Antwort. 

„Natürlich nicht“, beruhigt ihn Martin dann auch gleich. „Ohne Helm? Nee, natürlich nicht!" 
Und ergänzt: "Ich bin immer mit dem Bus hinterhergefahren.“ 

Erleichtert schauen wir uns an. „Der Martin. Echt clever.“ 


Selbstverständlich darf an diesem Abend auch eine romantische Liebesgeschichte nicht fehlen. Stellt sich doch heraus, dass eines der anwesenden Paare in diesem Sommer sage und schreibe 25jähriges Liebesjubiläum feiert! 

Erst ganz am Ende des letzten Schuljahres hatte es zwischen den beiden im Mathe-Leistungskurs gefunkt und allem Widerstand zum Trotz, gegen alle Barrieren zwischen den Klassen (er kam ursprünglich aus der 11b, sie aus der 11e), fanden die beiden schließlich zueinander.

Bei einigen von uns rufen Sabines Schilderungen dieses Happy Ends außer Freude auch etwas Wehmut hervor.

War doch soviel Liebesglück dem eigentlichen Traumpaar unserer Klasse, das schon in der Sechsten zueinander gefunden hatte, nicht vergönnt. Die Küste und der Kalli hatten sich wenige Jahre vor dem Abitur dann doch noch voneinander getrennt. Und das trotz allem, was die Klasse und sie miteinander durchgemacht hatten!

Und so ist es ein großer Trost, vom männlichen Protagonisten dieser „Love Story“ zu hören, dass zumindest das wichtigste Relikt dieser Beziehung überlebt hat: Ein liebevoll gestrickter Pulli in der Größe XXXXL (der das Tragen nicht nur von Hosen, sondern auch Schuhen darunter unnötig machte), der noch immer in einem Karton auf dem Speicher bewahrt wird.


Es tut gut. So ein Klassentreffen. 

Mag auch das eine oder andere Haar ergraut oder gar ausgefallen sein. Mögen wir alle etwas älter, reifer oder sogar etwas "gesetzter" erscheinen.

Lebt der eine in einer kunterbunten Patchworkfamilie und erlebt der andere als Banker die Griechenlandkrise hautnah mit.
Wartet die eine auch gerade darauf, dass der älteste Sohn endlich zum Studieren auszieht, während bei der anderen das lange Warten auf den ersten Sohn endlich ein Ende hat.
Haben die einen auch in einem kleinen bayrischen Dorf eine neue Heimat gefunden, während die anderen vor lauter Weltenbummlerei manchmal zu vergessen drohen wo das eigentlich ist - zu Hause. 

Eigentlich haben wir uns alle seit der 5. Klasse nicht groß verändert.

Zumindest, was unsere Trinkgewohnheiten angeht. Ich erinnere mich zumindest an keine Party der letzten 25 Jahre, auf der so viel Apfelsaftschorle konsumiert wurde. 

Doch nicht alle Fragen, die seit über zweieinhalb Jahrzehnten einer Beantwortung harren, konnten an diesem Abend geklärt werden. 

So auch die nicht, die der Wurch mir am Ende eines unserer zahllosen philosophischen Gespräche auf dem Mittelweg gestellt hatte: 

„Und wenn 'ne Ameise stirbt? Was ist dann?!“

Aber zum Glück sehen wir uns ja in spätestens 5 Jahren wieder...


2 Kommentare:

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  2. Fornicae (non sunt delendae)! Weiterhin gilt: Jene erbaulichen Krabbeltiere werden von den gläubigen Jainas aus dem Weg gewedelt, damit keines davon zerstiefelt werde ... Beseufzerungswürdig ist allein der Mittelweg: https://de.wikipedia.org/wiki/In_Gefahr_und_gr%C3%B6%C3%9Fter_Not_bringt_der_Mittelweg_den_To

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