Sonntag, 21. Februar 2016

EIN SCHWARZER TAG

Am Vormittag ruft Felix aus dem Büro an. Er möchte die schlechten Neuigkeiten gleich loswerden.

Es ist endgültig. Im Sommer müssen wir zurück nach Berlin. 

Und dabei hatten wir so gehofft, noch ein Jahr länger in Hanoi bleiben zu können.




Mir schießt als erstes die Frage durch den Kopf, wie wir das den Kindern beibringen sollen. 

Zwar wissen die beiden, dass wir eigentlich nur für drei Jahre nach Vietnam gekommen sind, hoffen aber genau wie wir auf unser ganz privates Sommermärchen...

Nach zweieinhalb Jahren sind Lotta und Luis hier endlich richtig angekommen: 

Hanoi ist ihr Zuhause. 

Mit allem was dazu gehört: Freunden, Playdates und Sleepovers. Einer Schule, die sie lieben, mit After School Activities, Swim Team und Saturday Soccer. Kurzurlauben am Meer, zwischen Reisfeldern oder bei den Elefanten. Unserem kleinen Mini-Supermarkt am Sedona, den Mopedfahrten um den Westlake herum und den abendlichen Ausflügen ins Bia Hoi am Park.

Der Weg dahin war nicht leicht. 

Bei unserer Ankunft sprachen weder Lotta noch Luis ein Wort Englisch.

Dennoch stiegen sie jeden Morgen tapfer in den Bus. Machten sich auf den Weg in einen Tag voller Missverständnisse und Unsicherheit. Nie wissend, was die neuen Mitschüler zu ihnen sagten, nie wissend, was die vielen neuen Lehrer von ihnen wollten. Nicht in der Lage zu fragen, wo die Schultoiletten sind, welches Fach als nächstes dran ist oder wie das alles in der Kantine funktioniert. Immer mit der Sorge, in den Pausen alleine da zu stehen.

Bei Luis war der erste Schultag völlig in die Hose gegangen. Die Busbegleiterin hatte ihn in der falschen Klasse abgegeben - eine halbe Stunde hatte es gedauert bis wir ihn fanden. Bis dahin war er in Tränen aufgelöst und als wir ihn schließlich zum richtigen Raum brachten, wurde er von seiner neuen Lehrerin mit der Aufforderung empfangen, nun aber mal mit dem Heulen aufzuhören.

Zwei Wochen lang hatte ich daraufhin bei 40 Grad im Schatten von morgens bis nachmittags auf dem Schulhof vor Luis' Klassenraum ausgeharrt. 

Immer wenn ihm zum Weinen zumute war, kam er kurz rausgelaufen, bekam eine Umarmung von mir und wurde dann mit ein paar aufmunternden Worten zurück in die Klasse geschickt.

Als der Schock des ersten Schultages langsam verdaut war, war meine ganztägige Anwesenheit nicht mehr nötig. Stattdessen malte ich ihm täglich kleine "Cartoon-Stundenpläne", damit er - auch ohne lesen zu können - immer wusste, welche Aktivität oder welches Fach als nächstes anstand.

Irgendwann brauchte er die Pläne nicht mehr - und irgendwann traute er sich auch, die Einladung zum Playdate mit Sem, dem Nachbarjungen, anzunehmen. Ab da ging es steil bergauf...

Lotta litt während des ganzen ersten Jahres sehr unter der Trennung von ihrer besten Freundin Luisa.

Richtig besser wurde es erst, als die so sehnlich vermisste Freundin im zweiten Jahr mit ihrem Papa zu Besuch kam, die beiden Wiedervereinigung  feiern konnten und Lotta merkte, dass trotz der langen Trennung immer noch alles beim Alten war.

Wie unsere Tochter die Anfangszeit in der Schule tatsächlich erlebt hatte, wurde uns klar, als ihr Englischlehrer uns ein Video zukommen ließ, in dem er sie zu ihren ersten Monaten an der UNIS interviewte....



Ja. Wir waren auch ziemlich gerührt...
Aber zugleich unglaublich stolz auf unsere Große.


Die Sprache war jedoch bei weitem nicht der einzige Grund, warum uns das Einleben hier so schwer fiel. 

Zumal das Englische den Kindern fremd, aber erlernbar war.
Anders als das Vietnamesische. Unvergessen der Moment, als wir nach einem knappen Jahr zum ersten Mal in ein Taxi stiegen, unsere Adresse nannten und der Taxifahrer nicht mit einem verwirrten "Hä?!??!" antwortete, sondern mit einem "OK." - und in die richtige Richtung losfuhr. 
Es war uns endlich gelungen, unseren Straßennamen verständlich auszusprechen - nach nur 10 Monaten Übung.

Das Klima in Hanoi schlaucht. 

Aufs Jahr gerechnet sind es vielleicht vier Wochen, in denen es wirklich angenehm ist. Während der übrigen Monate schwitzt man. Oder schlottert im unzureichend isolierten und kaum beheizbaren Haus. Hanoi ist nämlich kein Tropenposten, sondern ein subtropischer. Hier wird es im Winter richtig kalt. So kalt, dass selbst wir uns eines Tages gezwungen sahen, zwei der in Deutschland total verpönten und ausschließlich einer Ü70- Kundschaft zugerechneten Heizdecken zu kaufen.


Hanoi ist laut. 

Ob Mopedhupe, Hundegebell oder Hahnenkrähen -  ganz zu schweigen von der musikalischen Begleitung während der dreitägigen Totenfeiern, die alles in den Schatten stellt. 
Ständig ist es laut, und selbst wenn abends alles zur Ruhe kommt, die nächste Karaoke Bar - schlecht oder gar nicht isoliert - ist bestimmt nicht weit...

Für mich waren es letztlich die tierischen Begegnungen, die ein Einleben massiv verzögerten. Da war die Geschichte mit der Riesenspinne und Dem Schrei, den sie auslöste, gleich nach dem Einzug. Die tote Fledermaus unter meinem Schreibtisch nach dem Urlaub in Hoi an und ihr noch lebender Witwer, der meinen Eltern um die Ohren flog, was letztlich zu den Montagsdemos führte. Und dann dieser entfernte Verwandter, der ein Jahr später den Weg durch die Dachziegel fand - bildlich festgehalten in Alle Jahre wieder ...



Dabei habe ich die eigentlichen Problemkandidaten - die Ratten, die hier tags wie nachts die Straßen, Dächer und Stromkabel unsicher machen - geflissentlich verschwiegen. Die Berichterstattung darüber hätte beim besten Willen nicht mehr zum Titel "Happy in Hanoi" gepasst...

Zusammengefasst: In Hanoi anzukommen und hier Fuß zu fassen, war kein Zuckerschlecken.

Dass wir uns hier dennoch so wohlfühlen, verdanken wir zum einen den vielen lieben Freunden, die wir hier gefunden haben. 

Und den Rest haben wir uns hart erkämpft. Mit viel Enthusiasmus und familiärem Zusammenhalt. Und dem Mut, uns auf Neues einzulassen und auch mal Risiken einzugehen.

(Letzteres kann jeder bestätigen, der hier mal auf ein Moped gestiegen ist und sich in den mörderischen Verkehr gestürzt hat.)

Und deswegen bin ich jetzt auch so enttäuscht.

Weil ich mir gewünscht hätte, dass wir, vor allem aber die Kinder, ein wenig mehr Zeit gehabt hätten, das Erkämpfte nun auch zu genießen.

Lotta wollte hier in die Middle School versetzt werden. Und wenigstens ein einziges Mal mit den Großen zum Schwimmwettkampf fliegen.

Und Luis wollte bei der nächsten Student Counselor Wahl antreten. Mit einer supertollen Rede, die bestimmt alle in der Assembly vom Stuhl gehauen hätte.

Soll nun also alles nicht sein...

Puh - jetzt brauche ich erstmal frische Luft.

Als ich auf die Straße trete und das Gesicht unserer Nachbarin sehe, wird mir klar, dass sich die schlechten Neuigkeiten bereits herumgesprochen haben.






Und irgendwie kann auch die Mopedtour um den Westlake herum meine Stimmung nicht aufhellen...


Denn auf die Frage, warum einem manchmal der Weg versperrt wird, finde ich auch dabei keine Antwort.







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